Unterwegs

Von Paulus Adelsgruber

Tamara C., 79 Jahre, aus Sokirjany, Rayon Czernowitz
Foto: © Frank Gaudlitz

Von Otaci geht es nach Edineţ, hier vermittelt uns die NGO Areap Kontakte zu Privathäusern und zwei Wohnheimen. Die Menschen, die wir treffen, stammen unter anderem aus Charkiw, Chmelnyzkyj und Cherson. Die 79-jähre Tamara Z. aus der Oblast Czernowitz ist im Haus von Verwandten im Dorf Șofrîncani bei Edineţ untergebracht, in der Nähe des Enkels. Einer ihrer Söhne war in der Sowjetzeit Matrose bei den U-Boot-Verbänden in Sewastopol, sie hält sein Soldatenbild in die Kamera. Ihre Betroffenheit ist groß: „Im Krieg bin ich geboren, im Krieg werde ich vielleicht sterben“. Ein paar Straßen weiter lebt Elena K. aus Charkiw. Sie kennt das Dorf gut, hat sie doch als Frau eines hiesigen Landwirts periodisch hier gelebt. Dieser hat sie allerdings zu Corona-Zeiten verlassen, als sie in der Ukraine festsaß. Immerhin konnte sie nun im leerstehenden Haus von Freunden unterkommen und wird auch vom Exmann unterstützt.

Auf halber Strecke zwischen Edineţ und der Großstadt Bălţi liegt die Bezirksstadt Rîşcani, von wo die Familie des ehemalige Bundepräsidenten Horst Köhler stammte. Rîşcani war einer von über hundert Orten, in denen die rund 90.000 Bessarabiendeutschen bis zur Aussiedlung im Jahr 1940 lebten. Der Schwerpunkt des Siedlungsgebietes lag in Südbessarabien (Budschak), wo ab 1814 auf Geheiß von Zar Alexander I. die deutschen Mutterkolonien entstanden, die klingende Namen wie Borodino, Leipzig und Friedenstal trugen. Letztere heißt heute Myrnopillja („Friedensfeld“) und liegt in der Ukraine. Im Budschak lebte man in der Regel in ethnisch relativ homogenen Dörfern, hatte aber doch im Berufsleben und am Markt Kontakt zu den anderen Gruppen: Ukrainern, Moldauern, Gagausen, Russen, Bulgaren und Juden. Man kann das Verhältnis als pragmatisch verstehen, man trieb Handel und es gab Freundschaften, gemischte Ehen gab es in den traditionellen Gesellschaften selten.

Am Bild sehen wir Kinder der jüdischen Schneider- und Sattlerfamilie Kuschnir aus Alexanderfeld im Süden der Moldau, ein Geschenk an die befreundete deutsche Familie Richter (Dank die Nachkommin Renate Kersting, Stuttgart). Auf der Rückseite finden wir die Aufschrift „Zum Ewighen Andenk[en] unsere gute Bekannte Familia Richter fon Rebeka Ottilia und Izrael Kuşnir. Alex-cel-Bun, 6.6.1937.“ Vier Jahre später erlebten zehntausende bessarabische Juden den Schrecken des Holocaust, sie wurden über den Nistru deportiert und starben an Hunger und Kälte. In der ukrainische Grenzstadt Mohyliw-Podilskyj erinnert ein Denkmal an die Deportierten.

Bessarabien/Budschak, Ethnische Gruppen 1940
Aus: Ute Schmidt: Bessarabien. Deutsche Kolonisten am Schwarzen Meer, Potsdam 2012 (Beilage)
Die Schneider- und Sattlerfamilie Kuşnir: Rebekka, Ottilia und Israel
Quelle: Heimatmuseum der Deutschen aus Bessarabien, Stuttgart
Rückseite der Fotokarte mit Widmung
Quelle: Heimatmuseum der Deutschen aus Bessarabien, Stuttgart

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